Geht doch. Inklusion braucht manchmal nur eine gute Idee: Besuch der Kieler Kunsthalle (2012)

Sie sind zwei Gruppen wie sie unterschiedlicher kaum sein könnten: 13 Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Beruflichen Bildung der Horizonte Ostholstein und 14 Abiturientinnen und Abiturienten der Kieler Humboldt-Schule. Für die einen geht es um berufliche Orientierung und Teilhabe am Arbeitsleben, für die anderen um Numerus clausus und die akademische Laufbahn. An einem Freitag im September treffen diese verschiedenen jungen Menschen an einem Ort aufeinander, der für Bildung und Kultur steht, den manche häufig, andere noch nie von innen gesehen haben: die Kunsthalle Kiel. Eine Sonderausstellung widmet sich derzeit dem Thema „Von Sinnen. Wahrnehmung in der zeitgenössischen Kunst“. Sie verspricht: „Sämtliche Werke der Ausstellung ermöglichen sowohl einen sinnlichen wie auch intellektuellen Zugang.“ Angelika Witjes-Hielen war fasziniert, als sie gemeinsam mit ihrer Freundin Unna Rothardt, Kunstlehrerin der Kieler Humboldt-Schule, die Vernissage besuchte. „Es geht um alle Sinne, das ist Kunst mal anders“, erzählt die Leiterin der Beruflichen Bildung der Horizonte Ostholstein begeistert. So schmiedeten die beiden Frauen noch am Abend der Ausstellungseröffnung den Plan, die unterschiedlichen jungen Menschen, mit denen sie täglich arbeiten, zusammen zu bringen und einen gemeinsamen Ausstellungsbesuch zu organisieren.

„Wir fanden die Idee gut und haben uns Gedanken darüber gemacht, wie kann man das Ganze nett gestalten“, sagt Oberstufenschüler Moritz Boll. Zuvor hatte Lehrerin Unna Rothardt seine Klasse durch die Ausstellung geführt.

Nun haben sich die Schülerinnen und Schüler des „Ästhetischen Profils“ für jeden der Ausstellungsräume etwas Besonderes ausgedacht, um die ausgestellten Installationen zu erläutern und Kunst erfahrbar zu machen: ein Riechtest mit Duftdosen, ein Geschmackstest mit Gummibärchen und Zitrone oder ein Hörtest. „Welches Lied ist gelb? “ fragen Alexander Kneip und Eloise Chopin in die Runde. Weil man so eine Frage kaum spontan beantworten kann, spielen sie mitgebrachte Songs ab. Klingt „Gelb“ eher wie „The lemon song“ von Led Zeppelin, „Yellow“ von Coldplay oder doch wie das gute alte „Yellow Submarine“?

Eine Stecknadel könnte man fallen hören, so still ist es. So aufmerksam und konzentriert lauschen alle den Fragen und Erklärungen der beiden Vortragenden. Aber dann beim Song der Beatles klärt sich die Frage, wie sich gelb denn nun anhört, ganz von selbst. Begeistertes Mitsingen und Klatschen sind Antwort genug.

Eine Tür weiter ein neuer Höreindruck: Ein großer leerer, weißer Raum, an der Decke kreist ein Audiobeam und spielt wieder und wieder das Geräusch einer Fliege ab. Die Illusion ist perfekt: Sofort fühlt man sich von einem nervigen Insekt verfolgt. Ist das Kunst? Die Frage stellt sich gerade niemand und das darf auch so sein. Selbst wenn die Ausstellung den Anspruch hat, sich den Fragen zu widmen, „inwiefern die sinnliche Erfahrung einen eigenen künstlerischen Wert darstellt und diese über ein bloß hedonistisches Erleben hinausgeht“.

An diesem Freitagmorgen bleiben diese Fragen ungefragt. Die Magie des Augenblicks zählt. Das Erlebnis, riesigen Bergen von Fotos gegenüber zu stehen, die der Künstler Erik Kessels aufgetürmt hat und gemeinsam darüber zu rätseln, wie viele es wohl sein mögen: tausend, zehntausend, dreihunderttausend? Oder die Installation aus Marzipan und Schokolade von Sonja Alhäuser, die zum Aufessen einlädt. „Schmeckt ein bisschen alt, ist aber noch genießbar“, meint Maik Glatzer und hat die Lacher auf seiner Seite.

Es wird überhaupt viel gemeinsam gelacht bei diesem Ausstellungsbesuch, so viel wie sonst selten im Museum. Ausgelassen und laut über das verzerrte Gesicht beim Zitronen-Geschmackstest, andächtig leise über die Snow_Show von Künstler Vadim Fishkin. Von Inklusion redet niemand an diesem Freitagvormittag, aber das wäre auch überflüssig.